Cadregabec
Ausstellung beendet

Cadregabec

Cadregabec – Von seinen Vorbesitzern wurde der Stuhl liebevoll unser ‚Bügelbrett’ genannt. Wir erwarben ihn, weil uns seine außergewöhnliche Sitzfläche mit der bodenständig anmutenden Lehne so gut gefiel. Lange wussten wir nichts über seine Herkunft, per Zufall fanden wir ein zweites Exemplar. Dieses Mal war die Vorbesitzerin überzeugt, es handele sich um eine Schreinerarbeit in Einzelanfertigung.

Um den wirklichen Namen des Bügelbretts zu entdecken, brauchte es einen weiteren Zufall – eine Veröffentlichung der Galerie Blau mit dem Titel Svitala - Objekte, Möbel Arbeiten von 1986-1994 – Sezione trasverale. Hier war der Stuhl abgebildet mit den Angaben Cadregabe, 1989, Buche. Links von der Abbildung begann ein Text, der die folgende nahezu unglaubliche Geschichte erzählt.

Vom Verschwinden in einer Zementröhre
oder
18 Salute für SVITALIA

Wir alle kennen das. Es gibt Begebenheiten, denen man bedingungslos glauben möchte, obwohl sie doch ausschließlich dem blauen Reich der Phantasie entstammen.
Die notorischen Verdreher von Dichtung und Wahrheit, gemeinhin Schriftsteller genannt, tischen uns derlei Geschichten fast täglich auf. Aber: Gibt es auch Begebenheiten, denen man absolut keinen Glauben schenkt, gerade weil sie so unerbittlich wahr sind?
Susann und Urs auf alle Fälle konnten sich nie entschließen, jene Episode für wahr zu halten, die sich letzten Frühsommer im »Casa Espanola« in Freiburg zugetragen hat. Das ist zwar schade, aber letztlich ist das ausschließlich deren Problem. Ich weiß, was ich gesehen und gehört habe – und überhaupt: Ein Bericht, der so gut wie keine dramaturgische Spannung hat und ganz nebenbei gesagt auch ohne jeglichen – für Geschichtenerzähler so symptomatischen – moralischen Gehalt auskommt, kann schließlich von jedem rechtschaffenden Menschen, dem die Lügengespinste der Literaten noch nicht vollends den Sinn verdreht haben, nur für wahr gehalten werden.
Im Juni letzten Jahres also, stand ich an der Theke der »Casa Espanola« und wurde dort – ich muß zugeben – freiwillig Zeuge eines seltsamen Gespräches, das fünf offensichtlich gut miteinander befreundete Männer führten. Ich hatte Mühe, der Unterhaltung zu folgen, nicht nur weil sie teilweise in gebrochenem Deutsch geführt wurde, sondern auch, weil sie mir irgendwie verworren vorkam, was vielleicht an den vielen Riojas gelegen haben mag, die deren Gespräch begleiteten. Auf alle Fälle begann alles damit, daß einer von ihnen in allen nur erdenklichen Varianten behauptete, daß es ein deutscher oder Schweizer Designer in Italien, also in diesem Mekka des Designs schlechthin, nie zu etwas bringen könne. Nicht wörtlich, aber sinngemäß erklärte er, daß das »Rational-germanische« und das »Frivol-mediterrane« sich einfach nicht vertrügen und nur eine unheilvolle Verquickung von in sich widersprüchlichen Dingen hervorbringen könne. »Paradoxer Formenbrei« und ähnliches mehr war zu hören, bis er sich anschließend an sein Gegenüber wandte mit den Worten: »Das ist etwa so, wenn du als Italiener, Ettore, in Deutschland eine ›Pizza Strammer Max‹ essen mußt.« Dieser gewisse Ettore nun, dessen Augen bislang eigentlich nur auf sein Glas gerichtet waren, hob langsam, sehr langsam seinen Kopf, und sagte scheinbar ganz zusammenhanglos – ich kann mich sehr gut daran erinnern: » Ist es möglich, daß die Italiener eines Tages akzeptieren, daß es Menschen auf der Welt gibt, die geboren werden, leben und sterben, ohne daß Italien für sie von Bedeutung ist? Wer weiß, vielleicht kommt der Tag.« Wie gesagt: ganz zusammenhanglos. Aber dann sagte er – offensichtlich um diesen Mekka-Pizza-Redner Lügen zu strafen – nur ein Wort: »SVITALIA. Kennst du SVITALIA, Dieter?« Und dann, es schien wieder irgendwie nicht recht dazu zu passen, fuhr er fort (ich zitiere aus der Erinnerung): »SVITALIA, dieser besondere Zustand zwischen Unschuld und Neugierde, zwischen Unwissen und Anmaßung, den man mitunter spürte, als man klein war – und später, wenn man sich unter der Treppe versteckte, wenn man in ein unbewohntes Haus trat, wenn man eine Grotte entdeckte, wenn man eine Hütte aus Zweigen baute, wenn man in einer Zementröhre verschwand.«
Ja, und das ganze hatte ihn offensichtlich – obwohl er ja eigentlich nur dieses wenige gesprochen hatte – irgendwie ermüdet. Er senkte seinen Blick, griff zum Glas und meinte halb vor sich hinträumend: »Ein Königreich für ›Cadregabec‹.« - Für einen Augenblick füllte Erstaunen und Schweigen die Runde. Aber dann: »›Cadregabec‹, liebe Freunde«, beschwor er, »dieser Stuhl, der gleichzeitig Tisch ist. – Man muss sich viel Kindliches bewahrt haben, um so etwas machen zu können.« Und nach einer kleinen Pause, dann sein letzter Satz – ich hatte den Eindruck, er sagte ihn eigentlich nur noch ganz für sich: »Warum ist mir das nicht eingefallen.« Das Schweigen diesmal war eher wie die Ehrerbietung an einen alten Weisen. Und nur das Bestellen einer Schale Oliven, hatte ich den Eindruck, half über die erste Verlegenheit hinweg. Aber dann brach einer den Bann des Unbehagens. Ja, natürlich, auch er kenne SVITALIA. Er verfolge ihr Treiben schon lange, und ihn freue vor allem, daß die »seelenlose Üppigkeit des Mobiliars«, wie er sich ausdrückte, nun endlich ausgedient habe. »Kein bürgerliches Interieur mehr, daß mit seinen riesigen, von Schnitzereien überquollenen Büffets« - und nun glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen »allein der Leiche zur Behausung wird.« Ja, ich versichere, so drückte dieser eher bieder und provinziell Wirkende sich tatsächlich aus: Das bürgerliche Milieu könne allein der Leiche zur Behausung werden. – Es waren übrigens Formulierungen wie diese, die mir später, wenn ich von diesem Tresengespräch erzählte, immer wieder den Vorwurf einbrachten, das ganze sei nichts als erstunken und erlogen. Aber schließlich, was kann ich dafür, wenn Kneipengespräche mittlerweile das Niveau philosophischer Seminare angenommen haben. Und dann fragte er die anderen, ob sie »Si mangia« kennen, »diese kleine, feine Besteckmöbel, formal abgespeckt, aber doch nicht dürr, oder ›Duppio Lungo‹?« Er fragte: »Kennt ihr diesen brandneuen, verblüffenden Ausziehtisch schon? Plötzlich hast du für mehr Leute Platz am Tisch bei gleich groß bleibender Tischfläche. Einfach toll, dieses Narren der Geometrie. Oder ›Dolce vita‹, dieser Stuhl, auf dem« - ich erinnere mich an die Formulierung als ob es Gestern gewesen wäre - »auf dem das Steißbein so vortrefflich aufgehoben ist. Und zu seinem Nebenmann gewandt fragte er dann: »Sag mal, hast du das nicht immer behauptet, Octavio, das mit dem Steißbein?« »Ja, sicher«, nickte dieser, »aber, Walter, du weißt auch« - ich versuch’ das wieder aus der Erinnerung zusammenzukriegen, weil es sehr schön war - »du weißt auch, daß ich diesen ›Dolce vita‹-Stuhl vor allem deshalb mag, weil ich eine große Liebe zum Handwerk habe. Der handwerkliche Gegenstand lebt ja in Komplizenschaft mit unseren Sinnen«, - ja, ich glaube so hat er sich ausgedrückt - »und ich würde mich nie von ihm trennen, denn das hieße für mich, einen alten Freund hinauswerfen.«
Ja, und bei dem Wort Freund wurde dann plötzlich auch der fünfte in der Runde, der bisher zwar geschwiegen, das Geschehen aber doch mit verschmitzten Augen lebhaft beobachtet hatte, unruhig. Und er meinte zuerst nur: »Freunde, ich will euer nettes Geplauder ja nicht weiter stören, aber wir müssen uns beeilen, der Kongreß beginnt ja schon in knapp einer Stunde.«
Wahrscheinlich weil das Bezahlen aber dann doch länger ging als erwartet, hob derjenige, der gerade zum Aufbruch gedrängt hatte doch nochmal an (vielleicht bekomme ich das noch ungefähr so hin, wie er’s damals gesagt hat): »Noch kurz eins«, begann er, »ihr redet so hehres Zeug über den Designer. Ettore träumt vom spielerischen Design. Walter feiert den modernen Designer als Befreier vom Prunk der Ornamente und Octavio schwärmt von der auratischen Kraft des Handwerks. – Das mag ja alles stimmen, aber ich frage euch, sind Designer nicht auch hinterlistige, Fallen stellende Verschwörer? Nehmt nur SVITALIA, denen ihr gerade so gehuldigt habt. Findet ihr es etwas nicht hinterlistig, wenn da auf einer Konsole eine Toblerone platziert ist, die in Nachbarschaft zum Mailänder Dom so tut, als sei sie dessen helvetisches Pedant? Also ich nenne das Landesverrat. Wobei ich mir nicht sicher bin, was dabei schwerer wiegt: die Verunglimpfung eines nationalen Hoheitssymbols, der Toblerone nämlich, oder das schamlose Lächerlichmachen der im Grunde genommen doch nur rührenden Kompensationsanstrengungen einer zu klein geratenen Nation.« »Also Wilhelm, jetzt übertreibst du aber wirklich«, meinte jetzt der, der das ganze Gespräch ausgelöst hatte. »Laßt uns lieber gehen, sonst verpassen wir noch den Kongreßbeginn, außerdem müssen wir auch noch Julio abholen.« Sie bezahlten die Zeche (immerhin 18 Riojas) und brachen auf. Auf der Theke hatten sie ein Faltblatt vergessen, und da wurde mir plötzlich einiges klar. Ich las dort: PODIUMDISKUSSION. Trifft es zu, daß Tische das Bein heben, wenn sie alleine sind? Möbelgewohnheiten in Italien und der Schweiz. Teilnehmer: Dieter Rams, Ettore Sottsass, Walter Benjamin, Octavio Paz, Vilém Flusser. Moderation: Julio Cortázar. Ort: Kongreßhalle, Freiburg.
Laurie Beagle, London (Kanada), Januar 1994

SVITALIA, das waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Susann Guempel und Urs Kamber, sie führten ein gemeinsames Architekturbüro in Agra/Schweiz und Mailand/Italien.



Literatur
Galerie Blau (Hg.): SVITALIA - Objekte, Möbel, Architektur - Arbeiten von 1986-1994 - Sezione trasversale. Darmstadt/Agra, Tessin 1994.